Zeitgleich
zur Entstehung der unteren Kirche in Bieber wurde eine neue Orgel
angefertigt. Sie stammte vermutlich von dem Orgelmacher Peter Schleich aus
Lohr, der um 1760 auch hier in unserer Gegend tätig war. Diese Orgel hat
wohl 150 Jahre überdauert und wurde aus unbekannten Gründen von Wilhelm
Ratzmann 1910 durch ein komplett neues Werk ersetzt. Die Ratzmann Orgel
hatte ein völlig anderes Steuersystem und orientierte sich klanglich am
damaligen Trend. Man wollte weg vom "Herkömmlichen" und suchte
nach neuen Möglichkeiten. In der Zeit um die Jahrhundertwende hat man gerne
die zukunftsweisende Pneumatik zur Anwendung gebracht und den
"romantischen Orgelklang" umgesetzt. In diesem Gebiet hatte sich
Wilhelm Ratzmann bereits hervorgetan, seine Orgeln hatten die
Experimentierphase hinter sich und das damals hochmoderne System
funktionierte störungsfrei. Zudem waren seine Werke solide gebaut und
Klangschön. Man konnte ohne Schwierigkeiten seine Linie erkennen.
Die 1910 erbaute Orgel von Wilhelm Ratzmann hatte 5 Register auf einem
Manual und Pedal. Das Instrument war als pneumatisch angesteuerte Kegellade
gebaut. Ein großer Balg mit Schöpfer stand im unteren Teil des Gehäuses.
Darüber war das erste Manual mit einer 4' - und drei 8' Stimmen. 12 lange
Pfeifen aus dem HW waren auf die Pedallade geführt, welche im hinteren
Bereich weiter unten platziert war. Insbesondere standen darauf natürlich
die großen Pfeifen vom Bourdon 16'.
Ratzmann nutzte das alte Gehäuse von 1767 um sein Werk darin
unterzubringen. Die Form des Gehäuses musste sich jedoch der Technik seines
Werkes anpassen und nicht umgekehrt, wie es eigentlich erforderlich gewesen
wäre. Rahmenteile wurden zerschnitten, Füllungen wurden durch Bretter
ersetzt, die Hauben wurden gekürzt, und alles nur damit das Werk von
Ratzmann seinen Platz findet. Es entstand zwar eine klangschöne und solide
Orgel, aber doch auf Kosten des bis dahin erhaltenen Gehäuses.
Die Ratzmann-Orgel überdauerte 57 Jahre bis eine Erweiterung des Werkes
erwünscht war und durchgeführt wurde. 1967 stand zur Diskussion die doch
relativ kleine Orgel zu vergrößern. Es wurde schließlich vorgeschlagen ein
zweites Manual einzubauen. Dies führte mit sich, dass sowohl der
Spieltisch, wie auch die Balganlage ersetzt werden musste, weil sonst kein
Platz für das zweite Werk vorhanden gewesen wäre.
Der Bestand der ursprünglichen Orgel wurde ein weiteres Mal verändert. Das
Instrument wurde völlig umdisponiert und auf 11 Stimmen erweitert. Die
beiden alten, ursprünglich pneumatisch angesteuerten, Kegelladen wurden nun
elektrisch angesteuert, sowie auch die neue Windlade vom zweiten Manual,
die an der Stelle positioniert wurde an der vorher die großzügige
Balganlage stand. Die Ratzmann-Orgel wurde ein typisches Opfer der
"Orgelbewegung", bzw. des Zeitgeschmacks.
In den 90er Jahren häuften sich Fehler an der Orgel. 1996 stand man vor der
Frage entweder das jetzige Instrument überholen zu lassen, oder ein neues
bauen zu lassen. Es wurde eine Voranfrage nach den Kosten für ein neues
Instrument gestellt. Im Jahre 2000 wurden verschiedene Firmen angeschrieben
um nach einem Leistungsverzeichnis ihr Angebot abzugeben. In der
Ausschreibung war gefordert die letzte Disposition mit kleinen Eingriffen
zu übernehmen. Ausschlaggebend für den Zuschlag an die Firma "Andreas
Schmidt Orgelbau" war das eigenwillige Konzept in dem eine vollwertige
Disposition vorgeschlagen wurde.
Durch den Abbau der beiden Orgeln in Altenhasslau und Bieber war es möglich
eine Disposition in Anlehnung alter Orgeln von Ratzmann zu entwerfen. Es
entstand eine Brücke zwischen Ratzmann, Schleich und der neuen Orgel.
Vorgesehen war nun ein Instrument auf 8'-Basis im alten Gehäuse unter
Verwendung der erhaltenen Ratzmann Register. Auf dieser Grundlage wurde der
Auftrag am 27.11.2001 erteilt.
Mit den praktischen Arbeiten wurde bereits im Spätsommer 2002 begonnen. Die
Orgel wurde abgebaut um die Planung auf die bestehenden historischen Teile
abstimmen zu können. Ernüchterung stellte sich ein als sich herausstellte,
dass vom alten Gehäuse noch nicht einmal 10 Teile als original eingestuft
werden konnten. Am ursprünglichen Konzept festhaltend wurde trotzdem
versucht auf dieser Grundlage eine Rekonstruktion der ursprünglichen
Fassade zu entwerfen. Bestehende Teile mussten am Zeichenbrett in den
fehlenden Rest integriert werden. Architektonische Grundregeln und
proportionale Gesetz-mäßigkeiten sollten das Puzzle am Zeichenbrett lösen.
Vergleiche mit anderen Prospekten verschiedenster Orgeln wurden gesichtet.
Letztendlich stellte sich heraus, dass eine fundamentierte und begründete
Rekonstruktion nicht möglich gewesen wäre.
Es wurde eine Sitzung einberufen in der dieses Anliegen vorgetragen und
eine Alternative vorgeschlagen wurde. Die Alternative bestand darin eine
Fassade nachzubauen, die von Peter Schleich aus Lohr stammte. Auf einer
Aufnahme von 1895 des Landeskonservators Dr. Ludwig Bickell sieht man die
alte Orgel der Birsteiner Kirche. Diese Orgel wurde bei einem Kirchenbrand
im Jahre 1913 völlig vernichtet. Der Vorschlag diese Fassade nachzubauen
wurde angenommen.

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Die Umsetzung des Entwurfes wurde ein zweites Male begonnen. Das alte
vorhandene Foto zeigt das Instrument in einer Größe von 3,9 mal 4,3 cm. Auf
dieser Basis mussten Proportionen, Linienführung und die Details wie
Profile, Schnitzereien usw. entwickelt werden.
Der Standort des neuen Instrumentes war durch die benötigte Größe der
Technik, sowie durch die Platzbeschränkung der Eisenstangen vorbestimmt.
Unsere Konstruktionsarbeit richtete sich darauf aus, alle Bauteile und
jedes Detail in der Werkstatt herzustellen. Eisenwinkel für die Traktur,
Bleipulpeten, Dichtungsringe aus Kasimir, gebogene Messingdrähte,
Ventilfedern usw. wurden hier hergestellt. Auch die komplexen Teile wie
Spieltisch, Windladen und Traktur sind einmalige Anfertigungen welche in
der Werkstatt komplett gebaut wurden.
Unsere Absicht ist es homogene und ästhetische Instrumente in unserem
eigenen Stil zu bauen. Die Werke sollen mehrere Generationen überdauern und
sollen ein kleines Stück zur kulturellen Bereicherung in unserer Welt
beitragen.
Der technische Aufbau des neuen Instrumentes von Bieber spiegelt den
klassischen Orgelbau aus dem 18.Jahrhundert.

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Um die Baugruppen zu erläutern, hier eine kurze Beschreibung die sich auf
den alten Stich aus "Dom Bedos" bezieht. Da sitzt der Organist am
Spieltisch, er drückt eine Taste und zieht damit an einer Abstrakte, die
zum Wellenbrett führt. Das Wellenbrett überträgt die Bewegung von der
Teilung der Klaviaturen in die Teilung der Windladen. Über Drähte werden
die Ventile in den Windkästen gezogen, der Weg für den Wind ist bis zur
Schleife freigegeben. Wenn ein Register gezogen wird, das ist ein langes
56-faches Ventil (Schleife) welches gleichzeitig alle Töne eines Registers
schließt oder öffnet, so kann Wind in die angesteuerte Pfeife strömen. Die
Pfeife erklingt, indem die vordefinierte Luftsäule in Schwingung versetzt
wird. Unterschiedliche Tonhöhen sind durch die Längen vorgegeben, die
Bauart, das Material und die Weiten beeinflussen Charakter, Farbe,
Ansprache, Lautstärke usw...
Die Baugruppen und die Konstruktion:
Das Orgelgehäuse selbst ist in zwei Gruppierungen zu verstehen. Der
vordere, farblich gefasste Teil wirkt schmuck und elegant. Das Zweckgehäuse
hinter dem Stimmgang hebt die Tiefe des benötigten Raumes optisch auf. Das
gesamte Instrument steht auf einem Bodenrahmen, der die Aufgabe hat, das
Gewicht gleichmäßig auf den Emporenboden zu übertragen. Die Empore selbst
wurde eigens zur Aufnahme der Traglast für die neue Orgel verstärkt.
Alle Verbindungen des Gehäuses sind formschlüssig als Zinkungen, Schlitz
und Zapfen bzw. als Steckverbindungen gefertigt. Es gibt am Gehäuse keine
Schrauben; es ist "gesteckt". An Hölzern wurden nur einheimische
Arten verwendet, also Eiche, Fichte, Linde, Birne, Buche und Birke, je nach
Eigenart und zu erfüllendem Zweck. Die symmetrisch angelegte
Sägefurnierarbeit aus Birke verleiht dem Bedienungsbereich des Spieltisches
Wärme, Geborgenheit und Eleganz. Aber auch ganz praktische Dinge begründen
die Anwendung. Die glatte Oberfläche und die Anordnung, bzw. die Ergonomie,
der Bedienungs-elemente schützen das Material vor Gebrauchsspuren.
Die Innenkonstruktion der Anlage wird, wie bei alten Werken, vom Lagerwerk
des Gehäuses aufgenommen. Das Äußere ist also nicht nur Fassade, sondern
verbindet Tragegerüst, Windladen, Pfeifenwerk, Traktur und Klangkörper in
einer zusammenhängenden Konstruktion.
Die Windversorgung erfolgt über einen Doppelfaltenbalg auf dem
Dachboden. Der Balg stammt ursprünglich aus der Gemeinde Södel und
versorgte bis in die 60er Jahre eine sehr schöne Orgel von Johann Syer aus
Florstadt (um 1750). Der jetzt restaurierte Magazinbalg mit Schöpfer stammt
etwa aus der Jahrhundertwende und wurde in Södel vermutlich als Ersatz für
die nach 150 Jahren ausgediente Keilbalganlage eingebaut.
Die in einer eigens aufgestellten Balgkammer untergebrachte Windanlage ist
natürlich mit einem Gebläse ausgestattet, kann aber auch ohne Strom von
einem Calcanten bedient werden. Die Luft wird aus dem Kirchenraum angesaugt
und innerhalb des Systems an das Instrument weitergegeben.
Innerhalb des Pfeifenwerkes wurden verschiedene Register von
Ratzmann übernommen und dem Klangentwurf angepasst. Es entstand eine
Kombination aus neuen und restaurierten Pfeifen, welche klanglich sehr
schön miteinander verschmelzen. Durch aufwendige Eingriffe ist ein
einheitlich geformtes Pfeifenwerk entstanden das keine Brüche zwischen den
tiefsten und den höchsten Pfeifen in der Bauart aufweist. Obwohl die
Anordnung der Pfeifen bereits in den ersten Schritten der Planung
vorbestimmt wurde kann man sich jetzt nicht mehr vorstellen, dass dies
einer der ersten Arbeiten waren.
Alle Pfeifen unter 4' Länge (mit Ausnahme der Mixtur weil restauriert) sind
auf Tonlänge geschnitten. Insbesondere die Oktave 4' soll somit eine
stabile Orientierung für die Stimmtonhöhe sein.
Die Disposition der neuen Orgel in der unteren Kirche von Bieber:
II/14, Andreas Schmidt, 2003, opus V.
Hauptwerk:
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I. C-g'''
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Oberwerk:
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II. C-g'''
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Pedal:
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C-f'
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Prinzipal
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8'
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Oboe
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8'
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Subbaß*
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16'
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Gamba*
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8'
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Holzgedackt*
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8'
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Violon*
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8'
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Salicional*
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8'
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Rohrflöte
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8'
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Oktave
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4'
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Holzflöte
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4'
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Gemshorn
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4'
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Quinte
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2
2/3'
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Mixtur*
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III
f. 2'
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Oktave
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2'
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Koppeln:
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Züge:
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System:
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II/I
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Ventus
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Mech. Schleiflade
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I/P
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Calcant
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Hängende Traktur
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II/P
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Lux
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Zentraler Wind
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* Von Ratzmann stammende Pfeifen die zum Teil rekonstruiert, ergänzt oder
umgebaut (Aufschnitthöhen, Kernspalten, Expressionen, veränderte Tonlängen
usw.) werden mussten.
Am Orgelbau haben mitgewirkt :
Thomas Müller, Matthias Detsch,
Faxe Müller, Michael Deckenbach,
Dalibor Michek, Thomas v. Wolfersdorf,
Wolfgang Schramm, Andreas Schmidt
Herausgeber: Ev. Kirchengemeinde Bieber
Text: Andreas Schmidt
Fotografie: Andreas Schmidt
Gestaltung: Gerhard Weiß
Druck: Druck-Store Wächtersbach
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